Modellierung und Simulation und was Mathematiker darunter verstehen

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung des Graduiertenkollegs

Prof. Dr. Martin Grötschel


Zusammenfassung

Zunächst geht es in diesem Vortrag um den sehr vielschichtigen Begriff Modellierung. Ich werde versuchen, einige Deutungen und Begriffsbeschreibungen zu geben und gehe dabei von Boltzmanns Artikel aus der Encyclopedia Britannica 1902 aus. Ziel meines Vortrages ist die Erläuterung der Technik des mathematischen Modellierens von Anwendungsproblemen. Ich beziehe mich dabei insbesondere auf technisch-ökonomische Fragestellungen, die im täglichen Leben auftreten und die mathematisch behandelt werden können. Ich werde dann darstellen, was ich unter dem gleichfalls sehr vielschichtigen Begriff Simulation verstehe und was dieser mit Modellierung und mit Optimierung zu tun hat. Hier geht in der Literatur und im täglichen Sprachgebrauch vieles durcheinander. In diesem Vortrag geht es auch darum, die verschiedenen Rollen der Mathematik bei der gedanklichen Durchdringung von Anwendungsproblemen zu erklären. Mathematik dient gleichzeitig als Sprache, als Instrument eines abstrakten Problemverständnisses und als Lösungswerkzeug. Die Darstellung wird durch konkrete Anwendungsbeispiele und Filme aufgelockert.

Die Mathematik stellt mit ihren Theorien und Notationstechniken eine mächtige Sprache zur Lösung von solchen Problemen bereit, die (auf irgendeine Weise) formalisierbar, quantifizierbar oder logischer Durchdringung zugänglich sind. Die Mathematik verfügt mit ihren Definitionen, Sätzen und Algorithmen über einen Apparat zur präzisen Modellierung praktischer Fragestellungen, sie liefert theoretische Werkzeuge zur strukturellen Durchdringung der Modelle und entwirft Methoden zur effizienten Lösung.

Die Werkzeuge des Modellierens sind typischerweise Mengen und Rechenräume (natürliche, ganze, reelle und komplexe Zahlen), algebraische Strukturen (Gruppen, Ringe, Körper, Vektorräume), Konzepte (wie: Konstanten, Parameter, Variablen), Relationen (wie: Gleichungen, Ungleichungen, Äquivalenz), Bewertungskonzepte (wie: Zielfunktionen, Normen, Metriken, Maße, Wahrscheinlichkeiten), geometrische Objekte (wie: Polyeder, konvexe Mengen, Minimalflächen, Kegelschnitte, Varietäten), Methoden (wie: Differenzieren, Integrieren, Erwartungswertberechnung, Optimierungsalgorithmen) oder speziell strukturierte Gleichungen und Ungleichungen (wie: lineare Gleichungen und Ungleichungen, algebraische Gleichungen, gewöhnliche und partielle Differentialgleichungen).

Mit Hilfe dieser Werkzeuge und der signifikanten und wichtigen Unterstützung durch Fachleute werden praktische Probleme in mathematische Aufgaben transformiert. Diese Aufgaben heißen dann mathematische Modelle. Ich berichte in diesem Vortrag über Beispiele aus Bereichen der Informationstechnik und der Telekommunikation (wie: VLSI-Design, Herstellung von Leiterplatten, Entwurf ausfallsicherer Kommunikationsnetze, Frequenzplanung im Mobilfunk) und aus dem Bereich Transport, Verkehr und Logistik (Fahrzeugumlaufplanung, Busfahrereinsatzplanung, Einsatzplanung von Servicefahrzeugen). Ich erwähne auch einige typische Beispiele aus dem neuen DFG-Forschungszentrum: "Mathematik für Schlüsseltechnologien: Modellierung, Simulation und Optimierung realer Prozesse".

Modellierung ist in diesem Umfeld ein Versuch der formal-mathematischen Darstellung einer praktischen Fragestellung durch mathematische Werkzeuge mit dem Ziel des Einsatzes von mathematischer Theorie und mathematischen Algorithmen zur Lösung der Aufgabe.

Die Lösung kann auf verschiedene Weise erfolgen. Eine Möglichkeit ist die Simulation. Darunter verstehen wir die Durchrechnung von verschiedenen realitätsnahen Varianten des mathematischen Modells mit dem Ziel der Validierung der Korrektheit des Modells, des Studiums typischer Beispielsituationen, der Vermeidung von Experimenten (virtuelle Crashtests), der Vorhersage (Wetterprognose) oder der Ermittlung guter Vorschläge für die Steuerung von Systemen in der Praxis (Einsatz von Logistiksystemen).

Modelle sind mathematische Objekte, die einen Bezug zur "realen Welt" haben. Dieser Bezug muss durch Beobachtung, Vergleich, Messung oder Prognose in der Realität validiert werden. Erst dann, wenn die Fachleute (Ingenieure oder Ökonomen, Wissenschaftler anderer Fachrichtungen) eine hinreichende Übereinstimmung der Modellaussagen mit den Beobachtungen in der "realen Welt" finden, ist ein mathematisches Modell zur Lösung von Anwendungsproblemen geeignet. Die Modellierung geschieht selten in einem einzigen Schritt. In der Regel handelt es sich um einen Modellierungszyklusoder Problemlösungszyklus, in dem die Modellierung Zug um Zug verfeinert wird. Bei der Modellierung wird die Realität immer durch das bewusste Weglassen verschiedener Komponenten vereinfacht. Modelle werden auf spezielle Situationen hin ausgerichtet. Es muss aus fachspezifischer Sicht gesichert sein, dass die Vereinfachungen unbedeutend und für die zu betrachtende Situation hinnehmbar sind. Vereinfachungen werden auch deswegen gemacht, um die mathematischen Modelle auf überschaubarem Niveau zu halten. Lösbarkeitsgesichtspunkte spielen häufig auch eine Rolle. Für sehr komplexe Modelle bestehen selten praktisch durchführbare Lösungsalgorithmen, so dass aus rechentechnischen Erwägungen Modellvereinfachungen eingeführt werden.

Wichtig ist dabei darauf hinzuweisen, dass Modelle keineswegs eindeutig sind. In der Regel besteht ein Zusammenhang zwischen den Erkenntnissen der Praktiker, dem mathematischen Know-how des mathematischen Modellbauers und dem für eine praktische Situation entwickelten Modell. Mathematische Modelle sind, das ist jedem klar, der an einem solchen Prozess beteiligt ist, immer nur eine Annäherung an die Realität und spiegeln durchaus auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu einem bestimmten Zeitpunkt wider. Modelle müssen der praktischen Fragestellung angemessen sein. Bei unsicheren Daten ist es z. B. unsinnig, auf extreme Genauigkeit der Modelle zu achten und Methoden für höchst präzise Berechnungen der Ergebnisse zu entwickeln.

Die Beiträge der Mathematik bestehen in der Regel bei der Modellierung darin, dass Anwendungsfragen sorgfältig analysiert und ehrlich bewertet werden, dass klare Trennungen zwischen Naturgesetzen, Zielen von Anwendern, Regeln und sonstigen Nebenbedingungen gefunden werden, und dass eine sorgfältige Strukturierung nach qualitativen und quantitativen Aspekten vorgenommen wird. In diesem Sinne ist die mathematische Modellierung ein fundamentaler Beitrag zum Problemverständnis.

In meinem Vortrag wurden diese Ausführungen anhand einiger praktischer Probleme im Detail erläutert.